
Was ist unter “Studium des Negativen” zu verstehen?
Gerade die Auseinandersetzung mit etwas Negativen kann sehr wertvoll und interessant sein. Der Begriff des “Negativen” ist dabei nicht personell gemeint. Mit “Negativ” wird eine Wirkung des Menschen bezeichnet, die vor allem durch Manipulationen, Suggestionen und Lügen geschaffen wird. Das Studium des Negativen oder Bösen beschäftigt sich praktisch mit Handlungen, Aussagen bzw. Zitaten von unterschiedlichen Menschen, betrachtet diese tiefer und arbeitet das dahinter stehende Kernmotiv heraus. Als weitere Disziplin beschäftigt es sich mit der “Umformulierung” einer unwahren Aussage zu einer wahrheitsgetreueren Formulierung.
Was sind die Hintergründe dieser Arbeit?
Meist setzt sich der Mensch gerade mit negativ anmutenden Dingen zu wenig auseinander. Doch gerade in dieser Auseinandersetzung liegen große Möglichkeiten. Warum?
Betrachtet jemand zum Beispiel eine Aussage von einem Politiker, dann betrachtet er häufig solche Aussagen sehr oberflächlich. In den meisten Fällen entstehen darauf positive oder negative Emotionen und Bewertungen. Man reagiert sehr oft, indem man sofort eine Position dafür oder dagegen bezieht. Diese Reaktionen sind nicht frei, denn sie entspringen nicht der eigenen Wahrnehmung, sondern sind Ergebnis einer Emotion. Der Mensch ist sogar, solange er in einer solchen emotionalen Reaktion steht, von einer Aussage abhängig bzw. wird von ihr bestimmt. Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Negativen ist eine Fähigkeit, die den Menschen eine größere Freiheit und Unabhängigkeit ermöglicht. Gerade in der heutigen Zeit sind die Menschen durch die Medien vielen suggestiven, manipulativen und unwahren Aussagen ausgesetzt. Das Studium des “Bösen” bietet eine Grundlage, mit diesen negativen Aussagen produktiv und entwicklungsförderlich umzugehen.
Beispiel:
Eine Frau sagte beispielsweise bei der Betrachtung einer Aussage einer Politikerin: “Ja, diese Politikerin will über alle herrschen, sie will Macht ausüben!” Diese Aussage bezog sich aber in keinem Punkt auf die betrachtete Aussage. Es war eine rein emotionale Reaktion auf das gelesene Zitat. Mit einer solchen Reaktion bleibt man bei sich selbst stehen, bleibt bei seiner emotionalen Gegenreaktion und steht damit wie in einer Sackgasse, und kommt einer Aussage nicht wirklich näher. Schließlich kam man auf das herausgearbeitete Kernmotiv der Aussage: Es war “die Entschlossenheit zur Lüge.” Es wurden vier Sätze betrachtet, aus denen das Motiv hervorging, Menschen zur Entschlossenheit aufzufordern, der Lüge zu folgen. An der eigentlich positiven Fähigkeit zu Entschlossenheit, die jeden Menschen weiterbringen würde, wurde von der Politikerin angeknüpft und diese dann benutzt, um sie als Entschlossenheit für die Lüge zu verwenden. Diese Erkenntnis erfolgte jedoch aus einer sachlichen, längeren Auseinandersetzung mit der Aussage.
Ein verborgenes Motiv erkennt man nicht sofort. Das sogenannte Böse hat häufig die Eigenheit, sich geschickt zu tarnen und etwas vorzutäuschen.
Die Betrachtung unabhängig von emotionalen Reaktionen
Das längere Betrachten und objektive Erfassen einer Aussage ermöglicht es, unabhängig von Emotionen zu reagieren. Man kann sich in einer Handlungsfreiheit, Souveranität und Kraft im Gegenüberstellen einer Aussage schulen. Die konzentrierte Aufmerksamkeit auf eine Aussage, auf die wirklich wörtlich gesprochene Aussage, hat etwas Elegantes und Mutiges. Man erfasst eine Aussage erst einmal in ihren Worten, so wie sie gesagt ist, und aus dieser Wahrnehmung kommt man der Aussage näher. Indem der Mensch diese Fähigkeit entwickelt, steht er der Aussage betrachtend gegenüber. Er geht nicht in eine eigene Emotion, sondern bleibt in der Beziehung zu dem Menschen, der sie gesprochen hat, offen und geht sogar auf den anderen Menschen zu.
Die Möglichkeit zu einem freien Standpunkt
In dieser betrachtenden Haltung liegt eine moralische Komponente. Heute höre ich häufig gerade über negativere Aussagen: “von solchen Worten habe ich genug, ich möchte sie nicht mehr anhören“. Man verschließt sich, wendet sich ab, aber ohne, dass man einer Aussage bewusst gegenübertritt. Stellt man sich vor, was das für eine Person bedeutet, die zum Beispiel manipulative Lügen äußert: Sie spürt innerlich, dass sie nicht von anderen Menschen konfrontiert wird, dass sie von niemandem wirklich angeschaut wird und sie spürt, sie kann gerade so weiter machen. Sie erhält sogar Energie von all jenen, die sie gehört haben, aber nicht reagieren.
Sagt jemand etwas, dass manipulativ ist oder nicht der Wahrheit entspricht, dann liegt es bei denen, die es hören, gerade auf diese Aussagen mit wacher Aufmerksamkeit zu reagieren, aber nicht mit Abwehr und Emotion, sondern mit klarem, aufmerksamen Verstand. Damit wird eine moralische Haltung der Menschen gefördert. Der sich Äußernde wird gesehen, und der Hörer betrachtet aufmerksam. Der Mensch kann dann einen freien Standpunkt gegenüber einer anderen Person und Aussage beziehen.
Schutz durch Bewusstsein
Eine oft automatische Reaktion gegenüber dem Negativen, ist der Rückzug. Man möchte nichts mit negativen Dingen zu tun haben, möchte sich schützen und frei von diesen Einflüssen sein. Das ist verständlich, aber gerade indem man sich zurückzieht, tritt man nicht mehr bewusst einer Sache gegenüber und wird schutzlos. Man glaubt oder hofft, man könnte sich verstecken. Dies ist aber nicht der Fall. Heinz Grill weist in einigen Artikeln auf seiner Homepage darauf hin, dass alles, was man hört oder indirekt durch andere Menschen miterlebt, in einem weiterlebt. Schutz und sogar neue Kräfte entstehen gerade dann, wenn man sich bewusst konfrontiert und auseinandersetzt. Indem man sich bewusst mit einer Aussage beschäftigt, ist man durch sein errungenes Bewusstsein gegenüber der Sache dann wirklich geschützt und frei.
Die Umformulierung einer Aussage
Schließlich möchte ich die vielleicht tiefgreifendste Möglichkeit beschreiben, die mit der Auseinandersetzung von negativen Aussagen besteht. Indem man eine negative oder unwahre Aussage erfasst, kann man sie selbst umformulieren.
Man kann jede Aussage so umformulieren, dass sie eine Wahrheit ausdrückt. Damit wird man selbst schöpferisch tätig. Man benutzt das “Negative” und verwandelt es in etwas Erstrebenswertes. Ein bewusstes, klares Betrachten ist hierfür Grundvoraussetzung. Das selbstständige Umformulieren benutzt die Unwahrheit und führt sie auf eine wahre Stufe. Das Negative wird nun dienlich, denn es ermöglicht einem, eine Wahrheit zu formulieren. Man spannt damit einen großen Bogen auf und wird zu der Person, die der unwahren Aussage eine wahre Aussage gegenüberstellt. Dabei gibt es keine absolut wahre oder einzig richtige Umformulierung, sondern jeder Mensch wird wohl andere Worte für eine Umformulierung wählen. In dieser Umformulierung selbst lebt eine sehr große und neue Kraft zu einer moralischen Haltung.
Ein Beispiel: Der Papst Franziskus sagte in seiner Rede Corona urbi et orbi, 27. März 2020 unter anderen: “Wir sind nicht unabhängig, allein gehen wir unter. Wir brauchen den Herrn so wie die alten Seefahrer die Sterne.” Diese Aussage soll hier nicht als “Böse” bewertet werden. Aber was drücken diese Worte über den Papst wirklich aus? Wie ist sein Denken? Was brauchen wir? Was ist Unabhängigkeit? Jemand formulierte diese Aussage wie folgt um: “Die Seefahrer waren sehr frei und unabhängig, denn sie hatten die Fähigkeit, sich mit ihrem Bewusstsein an den Sternen zu orientieren, und damit ihr Schiff zu lenken.”
Lehrplan für diesen Fachbereich:
- Gesetzmäßigkeiten des Bösen in Form von Lüge, Manipulation und Suggestion an Texten und Aussagen herausarbeiten
- Studien zu manipulativen Aussagen und Erkennen der Motive oder Denkfehler
- Methoden des Umgang mit Angriffen in unmittelbaren Gesprächen und Rollenspielen in spezifischen Studienmodulen
- Behandlung des Themas: “Wie kann der Studierende den Angreifer für die Entwicklung im positiven Sinne ‘nutzen’?”
- Umformulierung zu einer Wahrheit
- Herangehensweise durch Vergleiche, vor allem durch das Mittel “Bild-Gegenbild”: Studieren des Gegenbildes zu den zerstörerischen Kräften
- Studium des Idealbildes einer realen christlich-geistigen Begegnung, in der beide Personen in ihren Fähigkeiten und in ihrer Individualität noch deutlicher hervortreten