Der „Neue Yogawille“ nach Heinz Grill im Verhältnis zum Hatha-Yoga

Vor etwa 30 Jahren begründete Heinz Grill einen Yoga, in dem er die klassischen Yogaübungen, asana, aufgreift, diese aber auf ganz neue Weise interpretiert. Er versteht die asana über ihre gesundheitlichen Wirkungen hinaus als eine Möglichkeit schöpferisch mit dem eigenen Ich tätig zu werden. Es geht ihm nicht um einen energetischen Gewinn aus den Körperübungen, sondern darum, wie seelische Qualitäten und geistige Gesetzmäßigkeiten durch den Übenden erforscht, gedanklich erfasst und schließlich in die Übungen hineingelegt und ausgedrückt werden können. Er schreibt hierzu:

„Nicht dasjenige, was der Einzelne aus der Übung herausnimmt, was er für sich von der Übung gewinnen kann, sondern die Kräfte, die Aufmerksamkeit, die Hinwendung und inhaltliche Bewusstheit, die er in die Übung hineinlegt, kommt ihm als Erfolg und schließlich auch als wahre Herzenskraft entgegen.“

Heinz Grill: Die Seelendimension des Yoga, S.108

Bereits der Titel seines Buches „Die Seelendimension des Yoga“ deutet auf die Andersartigkeit dieses Yoga hin. Die Seelendimension umfasst das Denken, Fühlen und den Willen des Menschen, die zu immer reiferen Werkzeugen für das soziale Leben werden sollen. Der Ansatz für das Üben liegt in konkreten seelischen oder geistigen Inhalten, die über das vorstellende Bewusstsein schließlich bis in den Körper hinein ausgestaltet werden. Heinz Grill bezeichnet diese Art des Übens auch als einen Weg von oben nach unten, der von Gedanken oder Idealen ausgeht, die das feinere Empfinden bereichern und sich schließlich im Körper ausdrücken. Die klassischen Yogaarten beginnen im Körper mit seinen Energien, indem durch die Übungen die Energiezentren, die sogenannten cakra stimuliert und das Fließen der Energien prana angeregt wird, bis diese in das Bewusstsein aufsteigen und eine geistige Erfahrung sich öffnet.

Bezugnehmend auf den alten indischen Yoga, in dem vor allem das prana und die Körperenergien stimuliert werden, hatte Rudolf Steiner am 30.12.1919 in einem Vortrag den sogenannten Lichtseelenprozess beschrieben, der vom Bewusstsein und den Sinneswahrnehmungen ausgeht und ihn in seiner Bedeutung für die heutige Zeit dargestellt. Dabei gebraucht er erstmals den Begriff „Neuer Yogawille“. Die gesamte Übungspraxis in dem von Heinz Grill gegründeten und durch jahrelange Forschungen ausgearbeiteten Yoga setzt ebenfalls ganz grundlegend im Bewusstsein an. Deshalb griff er den Begriff des Neuen Yogawillen auf, den Rudolf Steiner geprägt, aber für die konkrete Yogapraxis nicht ausgearbeitet hatte.

Der Übende formt entsprechend verschiedener Gedanken zu den kosmischen Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und den zugrunde liegenden seelischen Bildern seinen Körper aktiv aus, bis diese sich in den Stellungen und Bewegungen ausdrücken. Durch diese Aktivität, gewinnen die Übungen einen sehr ästhetischen und harmonischen Ausdruck, der sie mehr in den Bereich einer Bewegungskunst erhebt und so spricht Heinz Grill auch von einem künstlerischen Yoga. Seelische oder geistige Ideale werden so lange aktiv denkend erforscht, vorgestellt und erwogen und aktiv im Körper ausgestaltet, bis sie sich schließlich in ihm ausdrücken. Eine Verbindung zwischen der geistigen und irdischen Welt entsteht auf diese Weise nicht, indem der Praktizierende mit Hilfe des prana wegstrebt aus den irdischen Verhältnissen hinein in kosmische Gefühle des Einsseins, sondern indem er einen geistigen Gedanken direkt in die Welt der Materie hinein gestaltet, bis er diese durchdringt. Im Neuen Yogawillen sucht der Übende keine besondere spirituelle Umgebung auf, sondern er beginnt, die individuell bestehenden Lebensbedingungen mit seelisch-geistigen Noten zu durchdringen. Anstatt aus den bedrängenden oder erschöpfenden irdischen Verhältnissen zu entfliehen, sucht der Übende die Welt im Sinne einer Synthese mit geistigen Gedanken zu bereichern und fördert damit sowohl für seine Umgebung als auch für sich selbst aufbauende Lebenskräfte.

Wie ein ästhetischer und harmonischer Ausdruck beispielsweise in der Taubensitzhaltung entsteht

In der Taubensitzhaltung wird das 2. Zentrum, svadhisthana-cakra, das etwa unterhalb des Bauchnabels lokalisiert ist, angesprochen. Dieses besitzt eine Analogie zum Wasser mit seiner Eigenschaft, sich zu sammeln und gleichzeitig im Verdunsten oder Zerstäuben mit Leichtigkeit auszuströmen. Zusammenziehen und Ausströmen sind Gegensätze, die dem Wasserelement eigen sind.

Indem der Übende diese Qualitäten mit Interesse beobachtet und die Beschreibungen studiert, entwickelt er ein Empfinden für die im 2. Zentrum angelegten Möglichkeiten. Dem Wasser gleich, lernt er mit den Beinen sehr nahe und dynamisch dem Boden entlang auszugleiten bei gleichzeitiger Sammlung im Beckenbereich. Aus der Zentrierung und ausfließenden Bodennähe erwächst auch eine größere Leichtigkeit und Weite im darüber liegenden Brustkorbbereich als Qualität des 3. Zentrums, manipura-cakra. Auf der Höhe des Magens befindlich erlaubt es, den Oberkörper gelöst und offen aufzurichten. Geschmeidiges Ausfließen der Beine als Wechselwirkung zur Sammlung im Beckenbereich und eine daraus hervorgehende Leichtigkeit und Weite im Oberkörper verleihen der Bewegung ihren ästhetischen Ausdruck. Als grundlegende Eigenschaft, die mit dem svadhisthana-cakra entwickelt werden kann und die auch eine Analogie mit der Nähe zur Erde besitzt, beschreibt Heinz Grill die Fähigkeit des Vertrauens auf moralische Ideale und die ausdauernde Hinwendung zu ihnen, bis sie als Lebenssubstanz im Einzelnen ausgestaltet sind. Von oben nach unten, vom Gedanken ausgehend, formt sich Seelisch-Geistiges im Menschen aus.